Prof. Dr. Johann Ceh

Biberach

BärFrequently Asked Questions (Häufig gestellte Fragen)

 

F: Wie kann man durch Vergebung Kränkungen und seelische Verletzungen bewältigen?   

A:    Fast jeder Mensch kennt aus eigener schmerzhafter Erfahrung Situationen, in denen er von anderen verletzt, verraten oder im Stich gelassen wurde. Andererseits haben zu allen Zeiten Menschen die Kraft der Vergebung und Versöhnung erlebt. Nelson Mandela zum Beispiel saß für seinen Kampf gegen die Rassentrennung in Südafrika 27 Jahre lang im Gefängnis. Nach seiner Freilassung vergab er den Menschen, die ihm Unrecht angetan hatten und zeigte, dass die Vergebung und nicht die Rache der Weg zum Neuanfang und zum Frieden ist.

Bill Clinton fragte Nelson Mandela, wie er seinen Gefängniswärtern vergeben konnte. Mandela antwortete: „Als ich zum Gefängnistor hinausging, wusste ich, wenn ich diese Menschen weiter hasse, dann bleibe ich im Gefängnis.“ Clinton hat sich oft an diese Geschichte erinnert und hat sie wie ein Gebet wiederholt. Vergebung ist ein wirksamer Weg, mit erlittenem Unrecht umzugehen. Vergebung bedeutet: Loslösung von Gedanken, die immer wieder um das erlittene Unrecht kreisen und Loslösung von den damit verbundenen schmerzhaften Gefühlen und der damit ab und an verbundenen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Ein Vertrauensbruch, eine Demütigung, ein Betrug können uns deshalb so sehr erschüttern, weil alle Menschen sich akzeptiert, geachtet, wertvoll und geliebt fühlen wollen. vergeben

Die dreiteilige Struktur unseres Gehirns ist -  nach Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung -  der Grund dafür, dass wir nach starken Kränkungen jahrelang verbittert sein können. Der älteste Gehirnteil -  in dem die archaischen Reflexe, wie die Bereitschaft zur Flucht, zum Kampf und zum Erstarren („Totstellen“) entstehen  -  entwickelte sich in der Evolution schon früh und wird „Reptiliengehirn“ genannt. Den zweiten Gehirnteil nennt man „emotionales Gehirn“ oder „Säugetiergehirn“. 
Dort generiert sich zum Beispiel die Sehnsucht nach Bindung und dort werden positive und negative emotionale Erfahrungen gespeichert. Im dritten Gehirnteil – dem Neokortex – analysieren wir Situationen bewusst und speichern Erinnerungen. Dort ist auch unsere Empathiefähigkeit verankert und die Fähigkeit, die sozialen Konsequenzen unserer Handlungen abzuschätzen. Fakt ist nun, dass der Einfluss des Neokortex auf unser Reptiliengehirn und unser emotionales Gehirn geringer ist als umgekehrt. Wenn wir alle drei Gehirnteile in den Verarbeitungsprozess  von positiven oder negativen Erfahrungen einbeziehen wollen, ist es notwendig, erst unser emotionales Erleben zuzulassen und dann mit Hilfe des Neokortex uns die Emotionen bewusst zu machen und zu verarbeiten. Wenn wir emotional verletzt werden, reagiert als Erstes unser Reptiliengehirn. Entweder vermeiden wir es, uns mit dem Schmerz auseinanderzusetzen – wir fliehen also. Oder wir entwickeln Wut oder üben Vergeltung - wir kämpfen also. Oder wir erstarren quasi,  indem wir in einen Zustand der Apathie verfallen.
Gegen diese natürlichen  Reaktionen - gleichsam der erste Schritt auf dem Weg zur Vergebung - können wir nichts tun. Der zweite Schritt passiert im emotionalen Gehirn in Verbindung mit dem Neokortex.  Das Zusammenwirken dieser beiden Hirnteile schafft uns die Möglichkeit,  Abstand zu den  Impulsen Rache und Verdrängung zu gewinnen, indem wir uns mit unseren Gefühlen auseinandersetzen und uns klarmachen, was genau in uns emotional abläuft. Erlittenes kann letztendlich nur überwunden werden, wenn es gelingt, den Neokortex wirklich mit einzubinden. Wir müssen lernen, über das Erlebte anders zu denken als bisher, es anders zu bewerten und uns auch anders zu verhalten.

Vergebung meint von der Wortherkunft her: Etwas fortgeben, loslassen, verschenken. Ein Mensch, der vergibt, erklärt seinen Verzicht auf Rache und Vergeltung. Gewissermaßen beschenkt er den Täter mit Verständnis, Güte und Gnade  - aber er beschenkt auch sich selbst mit Fürsorge, weil er sich von belastenden Gefühlen löst.  So gesehen ist Vergebung die Transformation von negativen Gefühlen (Groll, Wut, Hass,…) in positive Emotionen (Mitgefühl, Empathie, Liebe, …).

Wenn ich vergebe/verzeihe,

  • verzichte ich auf Vergeltung und Rache und darauf dem anderen wehzutun, nach dem Motto: „Jetzt geb ich´s ihm aber.“
  • bringe ich das Unrecht nicht immer wieder zur Sprache.
  • verzichte ich auf die Bestrafung des Sünders und überlasse es Gott, mit dieser Person abzurechnen.
  • lebe ich frei von Verbitterung. Warum sollte ich mein Leben mit etwas vergiften, was ein anderer getan hat?
  • löse ich mich von dem, was geschehen ist und bin wieder frei.
    „Wer nachtragend ist, hat viel zu schleppen.
  • steige ich aus der Opferrolle aus und übernehme selbst die Verantwortung. Wenn ich die Beweggründe des anderen verstehe, fällt es mir leichter, ihm zu vergeben:
    „Comprendre c´est pardonner.“ (Verstehen heißt vergeben).
    „Alles verstehen heißt alles verzeihen.“ (Madame de Stael).

Alle Erfahrungen, die wir machen, hinterlassen Spuren in unserem Gehirn („neuronale Trampelpfade“). Wenn ich dann erneut mit einem Auslöser negativer Erfahrungen konfrontiert werde, werden diese Erfahrungen reaktiviert. Vergebung ist nicht vom Geständnis oder einer Entschuldigung des Gegners abhängig, sonst wäre ich abhängig von anderen:
Vergebung bedeutet nicht Vergessen. Wenn ich etwas vergesse, kann ich nichts daraus lernen.

„Vergeben und vergessen heißt, kostbare Erfahrung zum Fenster hinauswerfen.“ (Schopenhauer)

„Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“ (Mahatma Gandhi)

Wenn ich nicht vergebe ist es gleichsam so, als würde ich das „Messer“, das in meiner „Wunde“ steckt, immer wieder umdrehen.

Vergeben heißt nicht gutheißen. Ich kann das Verhalten des anderen nach wie vor falsch finden, unangemessen, niederträchtig. Im Gegensatz zur Versöhnung, nach der die unterbrochene Verbindung wieder aufgenommen wird, können sich nach der Vergebung die Wege trennen.
Ich kann Kränkungen und Verletzungen verzeihen und aus leidvoller Erfahrung trotzdem keinen persönlichen Kontakt mehr wollen. Vergeben funktioniert rein mental. Ich kann es ganz allein ohne den anderen tun. Vergebung findet zunächst auf der rein kognitiven Ebene statt und es ist zunächst ein Willensakt. Der andere muss dabei weder anwesend sein, noch muss er davon erfahren. Er kann sogar schon tot sein.
Nach den Erkenntnissen der Kognitiven Verhaltenstherapie kommt es zunächst zu einem Widerspruch zwischen „Kopf und Bauch“.
Wenn ich verzeihende Gedanken jedoch oft genug gedacht habe, wird das Gefühl nachfolgen.
Sie könnten zum Beispiel mit Blick auf ein Bild des Beleidigers, Kränkers, Aggressors folgenden „Vergebungstext“ – laut oder in Gedanken – sprechen:
„Ich bin bereit, dir zu vergeben, dir das nicht weiter nachzutragen, dir das nicht heimzuzahlen weil ich nicht länger an Dich gebunden sein will, vergebe ich dir, weil ich mir selbst etwas Gutes tun will, vergebe ich dir.
Ich tue es um meinetwegen, nicht weil du es verdienst. Was du getan hast, halte ich nicht für richtig, aber: Passiert ist passiert, Fakt ist Fakt. Es ist nicht mehr rückgängig zu machen.“

forgiving

Wer sich an Bitterkeit und Hass festklammert, schadet sich selbst mehr als dem anderen, auf den sich der Hass richtet.
Wohin die „Unfähigkeit zu vergeben“ im Extremfall führen kann, beschreibt Heinrich von Kleist 1810 in seiner Novelle „Michael Kohlhaas“. Der Pferdehändler Michael Kohlhaas wird Opfer eines Betrugs und er bricht – nachdem ihm der Rechtsweg verweigert wurde – zu einem grausamen Rachefeldzug auf.

Aus einem rechtschaffenen Menschen wird ein entsetzlicher Mensch, der aus Verbitterung alles tötet, was sich ihm in den Weg stellt.

„Am Ärger festzuhalten ist wie ein glühendes Stück Kohle festzuhalten, um es nach jemandem zu werfen. Derjenige, der sich dabei verbrennt, bist Du selbst.“ (Buddha)

Gottes Vergebung finden …

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.“ (Matth. 6,14 – Einheitsübersetzung)

„Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ (Lukas 6, 37 – Lutherbibel)

In christlichen Kirchen gibt es die Beichte als sakramentale Sündenvergebung im Namen Christi. Die Kirchen beziehen sich in ihrer Lehre vom Bußsakrament auf biblische Aussagen.

 



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